MH17: Unkontrollierbare Proxies und die Tragödie des Irrtums

Es ist eine furchtbare Katastrophe: der Abschuss der Passagiermaschine MH17 von Malaysia Airlines über der Ostukraine. 298 Menschen fanden bei dem Unglück den Tod – Wissenschaftler, Lehrer, Eltern und Kinder. Die Trauer ist global, und auch das Entsetzen: Wie konnte so etwas passieren?

Die Verantwortung für die Zerstörung der Passagiermaschine tragen – hier herrscht derzeit weitgehendes Einvernehmen – pro-russische Separatisten; sie sollen das Flugzeug mit Hilfe einer russischen Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk, auch bekannt als SA-11, abgeschossen haben.

Bislang ist dieses Wort nicht gefallen – doch sind die 298 Toten nicht auch Kollateralschäden in einem zunehmend unversöhnlicher und brutaler geführten Konflikt? Wie die bis dato mehr als 500 getöteten Palästinenser und die zwei israelishen Zivilisten?

Der Druck auf Russlands Präsidenten Wladimir Putin wächst, gilt er doch zumindest als mitverantwortlich für den Abschuss der MH17, oder wie es der US-Nachrichtensender CNN formulierte: „Does President Vladimir Putin have blood on his hands?
Der US-Abgeordneten Peter King antwortete: „Putin is responsible. If you want to use the expression blood on his hands, I would say yes.

Ähnlich sieht es auch Max Boot, Analyst beim Council on Foreign Relations, einer Washingtoner Denkfabrik: „Putin is nevertheless ultimately responsible. If you hand a bazooka to a hyperactive teenager and he destroys your neighbor’s house, the person providing the weapon is just as culpable as the one firing it.

US-Außenminister John Kerry erklärte: „Das ist der Augenblick der Wahrheit für Putin.“ Sein britischer Amtskollege Philipp Hammond wurde noch deutlicher: „Wenn sie [Putin] weiterhin erlauben, dass Waffen über die Grenze gebracht werden, wenn sie die Rebellen weiter wie bisher unterstützen, dann wird es härtere und länger andauernde Konsequenzen für die russische Wirtschaft geben.

Unkontrollierbare Proxies

Die USA und Europa haben in einer ersten Reaktion die Sanktionen gegen Russland weiter verschärft; US-Präsident Barack Obama und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel fordern ein schnelles und entschiedenes Eingreifen Putins: er solle seinen Einfluss auf die Separatisten nutzen und den Konflikt zwischen Kiew und den Rebellen deeskalieren.

Schließlich, so die nachvollziehbare Logik, unterstützt Moskau die pro-russischen Separatisten auch mit Waffen – und könne damit seinen Einfluss geltend machen und die Rebellen steuern, kontrollieren…

So verständlich diese Forderung ist, so wenig realistisch ist sie doch zugleich. Denn wenn uns der Abschuss von MH17 etwas in aller Brutalität vor Augen führt, dann dass Staaten ihre Proxies, ihre Stellvertreter nicht kontrollieren können.

Eine Erfahrung, die die USA und Europa in der vergangenen Jahren wiederholt gemacht haben. So haben wir nach 2001 lernen müssen, dass sich technische Ausrüstung und taktisches Know-how, das die USA den Mujaheddin im Kampf gegen die Rote Armee in Afghanistan zur Verfügung gestellt habe, auch gegen die eigenen Einsatzkräfte der NATO richten können. Und in Syrien mussten wir erfahren, dass die Unterstützung der Gegner von Baschar al-Assad auch bedeuten kann, die eigenen Gegner aufzurüsten.

Und in keinem dieser Krisenszenarien hatten/haben die USA oder Europa nennenswerten Einfluss auf ihre Proxies

Die Tragödie des Irrtums

Bemerkenswert ist, wer sich derzeit mit klaren, offenen Schuldzuweisungen Richtung Moskau zurück hält: Barack Obama. Was man ihm als Schwäche auslegen kann, oder, richtiger, als Gespür für Timing und Geschichte…

In Iran wird man dieser Tage die Reaktion Washingtons auf den Abschuss von MH17 sehr genau beobachten, wiederholt sich hier doch ein Teil unrühmlicher US-Geschichte: Am 3. Juli 1988 war der Linienflug IR655 der Iran Air vom US-Kriegsschiff USS Vincennes über dem Persischen Golf abgeschossen worden; 290 Menschen fanden den Tod.

In einer ersten Reaktion verurteilte Teheran den Abschuss der Maschine als „babarischen Akt„; den Vorwurf des damaligen iranischen Außenminister Ali-Akbar Welajati, dass der Angriff durch die USS Vincennes „vorsätzlich“ (premeditated) erfolgt sei, wies der damalige US-Vize-Präsident George H. W. Bush als „beleidigend und absurd“ (offensive and absurd) zurück. Vielmehr verteidigte Bush die Besatzung des Kriegsschiffs und erklärte, sie habe angemessen gehandelt. Auch lehnte Bush es ab, sich im Namen der USA für den Abschuss bei den Hinterbliebenen zu entschuldigen.

Der Vorfall ereignete sich während der Iran-Irak-Kriegs, und damit zu einer Zeit, als der Westen und vor allem die USA in Iraks Diktator Saddam Hussein noch einen engen Verbündeten sahen. Zum Schutz der Öltransporte hatten die USA die 5. Flotte in den Persischen Golf verlegt.

Zu dem Unglück kam es, wie man heute weiß, durch menschliches Versagen. So wurde IR655 zwar von der elektronischen Freund-Feind-Erkennung (identification friend or foe (IFF)) der USS Vincennes als Zivilflugzeug erkannt. Jedoch identifizierte das neuartige Aegis-Kampfsystem an Bord des Schiffs die Passagiermaschine als eine F-14 Tomcat, also als ein Kampfflugzeug. Der Kapitän der USS Vincennes entschied sich, der Meldung des Aegis-Systems zu glauben – und befahl den Abschuss von IR655.

Anders als beim Unglück über der Ostukraine, wo nach derzeitigem Kenntnisstand schlecht oder gar nicht ausgebildete Rebellen den Abschuss ausgelöst haben, haben den Abschuss über dem Persischen Golf hochqualifizierte Soldaten zu verantworten.
Vize-Präsident Bush hat das Unglück 1988 auch damit erklärt, dass sich die Besatzung der USS Vincennes in einem Kampfeinsatz befand; die Rebellen in der Ostukraine könnten das gleiche sagen – und damit doch nichts erklären, nichts entschuldigen.

Irren ist menschlich; nirgends aber ist der Irrtum von Menschen so tragisch wie in Zeiten von Konflikten und Kriegen.

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